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Etablierung der Jugendarbeit

Epoche 1

1869 gründet sich der Deutsche Alpenverein. Genau genommen ist es die „Münchner Section“, die am 9. Mai 1869 im Gasthaus „Zur Blauen Traube“ in der Münchner Altstadt aus der Taufe gehoben wird.1 Wenn man sich die vier maßgeblichen Gründungsmitglieder anschaut, um zu untersuchen, mit wem man es zu tun hat, so stellt man fest, dass die Gruppe aus Männern und Honoratioren, d. h. Pfarrer (Senn), Buchhändler (Trautwein) oder Kaufmann (Stüdl) besteht. Einzig der Student der Rechtswissenschaften (Hofmann) ist etwas jünger.2 Es verwundert wenig, dass diese Bildungsbürger in der Phase der Gründung zunächst mit anderen Dingen beschäftigt sind, als mit dem Aufbau einer systematischen Kinder- und Jugendarbeit.

 

Umso mehr stellen sich die Fragen: Was waren die Anfänge der Jugendarbeit im Alpenverein? Aus welchem Geist und zu welchem Zweck wurde damals Jugendarbeit betrieben? Welches Erbe tragen wir noch heute mit uns herum?

 

Die Anfänge der Jugendarbeit

Von Anfang an waren junge Menschen im Alpenverein aktiv, doch von einer systematisch organisierten Jugendarbeit kann in den ersten Jahrzehnten nicht die Rede sein. Erste Hinweise darauf, dass sich der Verein auch um junge Menschen kümmert, finden sich ab 1890: Jugendherbergen werden vom Alpenverein gefördert oder gebaut. Bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs sind es vor allem akademische Sektionen, die ein Programm für junge Menschen organisieren. Hier geht es hierarchisch und durchaus streng zu. Nur unter der Leitung von älteren und erfahrenen Führenden werden Alpenwanderungen unternommen. Erste Jugendgruppen im Alpenverein gründen sich in den Sektionen Hochland, Innsbruck und Linz kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Auf der Hauptversammlung in Regensburg 1913 wird bereits ein Antrag der Sektionen München und Hochland zur „Förderung des Jugendalpenwanderns“ eingebracht. Dieser wird zwar grundsätzlich begrüßt und eine allgemein gehaltene Unterstützung beschlossen, zu einer finanziellen Ausstattung kann sich das Gremium jedoch nicht durchringen. Die Entscheidung wird vertagt, der Erste Weltkrieg bricht aus und alle Bemühungen kommen somit zum Erliegen.

 

Die Motive

Interessant sind die Motive aus denen heraus Jugendarbeit im Alpenverein begründet wird. Eines der Hauptargumente, das einem in den Veröffentlichungen der damaligen Zeit begegnet ist das der Abwehr. Es geht nicht darum, junge Menschen für das Gebirge zu begeistern, sondern vielmehr „die Flut“ von unerfahrenen Jugendlichen einzudämmen bzw. abzuwehren. Als Gruppen, vom Wandervogel* inspiriert, in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts mehr oder weniger selbstorganisiert in die Berge ziehen, beschreibt das Ernst Enzensperger, maßgeblicher Organisator der Jugendarbeit in der Zeit zwischen 1913 und 1933 wie folgt:

 

„Eine Hochflut von bergunerfahrenen Jugendlichen aus Nord- und Mitteldeutschland überschwemmte heuer die bayerischen Berge. Ungenügend mit der leichtesten Tracht der freien Wanderstraße ausgerüstete Gestalten, statt mit Stock und Pickel meist mit Guitarre und Mandoline bewehrt, die ihr Gezirpe gar seltsam auch in der Einsamkeit der wildesten Felsenwelt ertönen ließen, buntfarbige Reigen mitten im ernsten Hochgebirg, süßes Getue und Tändeln des mit Vorliebe gemischtgeschlechtlichen Wanderns, unreife Kinder auf Klettersteigen – das waren die Erscheinungen die ernste Alpinisten zwangen, dagegen Stellung zu nehmen und all das Gute zu vernichten drohten, was in den letzten Jahren für das alpine Jugendwandern geschaffen worden war.“4

 

Wenn man sich vor Augen führt, wie wichtig der JDAV heutzutage die Themen Mitbestimmung und Selbstverantwortung sind, staunt man, warum nicht gerade die Wandervogelbewegung Ausgangspunkt und Vorbildfunktion für die Jugendarbeit im Alpenverein wurde. In der Tat gab es kurz nach Kriegsende eine intensivere Diskussion um die zukünftige Ausrichtung der Jugendarbeit „und zwar ohne Zwang und Drill“5, wie es Paul Jacobi fordert. Für einen kurzen Moment zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass sich Jugendarbeit im Alpenverein von der staatlich verordneten, militärisch instrumentalisierten und schulpädagogisch vermittelten abheben könnte. So fordert beispielsweise Hermann Amanshauser „nicht Jugenderziehung, sondern Jugendbewegung"6 am Beispiel des „Wandervogels".

 

Um die Jahrhundertwende entsteht in Steglitz bei Berlin eine Strömung im Sinne der Lebensreformbewegung, die sich gegen Bevormundung, restriktive Autoritäten und den vorherrschenden Drill in der Erziehung wehrt. Die „Wandervögel“ wollen ohne ihre Eltern unterwegs sein und bevorzugen Gleichaltrige oder nur wenig Ältere als Führer. Abseits der touristischen Hotspots suchen die Jugendlichen nach Einsamkeit in Wald und Heide, übernachten mit Vorliebe unter freiem Himmel oder in Scheunen und entwickeln eigene Symbole, Fahnen, Lieder und Rituale. Die Mitglieder sind vor allem Gymnasiasten und Studenten, aber auch Mädchen sind bei den intensiven und romantisch motivierten Gruppen- und Wanderfahrten willkommen. Der Wandervogel mit seinen Idealen der Selbstverwaltung und Selbsterziehung gilt als Ausgangspunkt für die deutsche Jugendbewegung, und als wichtiger Wegbereiter für Reformpädagogik, Landerziehungsheime und Erlebnispädagogik.

Doch in der Kontroverse „Jugenderziehung oder Jugendbewegung“ setzt sich letztlich die Gruppierung um den Lehrer Ernst Enzensperger durch. Als der Alpenverein auf dem Gebiet der Jugendarbeit systematisch tätig wird, begründen die Befürwortenden ihr Vorhaben immer auch militärisch und mit einer gewissen Sehnsucht nach Zucht, Ordnung und Wiedererstarken der Nation.

So argumentiert beispielsweise Adolf Deye im Jahr 1917, dass private Institutionen besser als das Militär geeignet seien, die jungen Männer körperlich und geistig zu ertüchtigen: „So wird man nicht nur den Bergen immer wieder neue, begeisterte Freunde zuführen, sondern man wird damit auch die Forderungen des Staates und der Wehrkraft im vollsten Maße erfüllen: denn der Urgrund aller soldatischen Tüchtigkeit liegt in der Fähigkeit, ausdauernd zu marschieren.“7

 

Auf der Hauptversammlung 1919 in Nürnberg gelingt Enzensperger mit seinen Mitstreitern dann der Durchbruch in der „Frage des Jugendwanderns“, indem er auch nationale Überlegungen ins Feld führt: „Wir haben augenblicklich überall die Erkenntnis, daß das kostbarste nationale Gut, das wir haben, die Jugend ist und daß ihre Ausbildung nicht für den Verein allein, sondern für das Vaterland lebensnotwendig ist.“8

 

Mit dieser Sicht steht Enzensperger nicht allein, schon der Vorsitzende Reinhold von Sydow eröffnet die Versammlung, indem er die Zäsur des Weltkriegs zum Anlass für eine programmatische Neuausrichtung des Vereins nimmt: „Nicht bequemem Leben, sondern der Stählung des Körpers und der Erhebung des Geistes an der großen unwandelbaren Natur soll unsere Arbeit dienen. In diesem Sinne müssen wir uns insbesondere die Heranbildung der Jugend zu den Idealen des Alpenvereins angelegen sein lassen.“9 Die auf der Hauptversammlung verabschiedeten Grundsätze der Sektion Bayerland schlagen in eine ähnliche Kerbe und fordern eine Wiederbesinnung auf die bergsteigerischen Tugenden. Besonders der letzte Passus im dritten Leitsatz kann als endgültiger Startschuss für die systematische Jugendarbeit im Alpenverein gelten: „Besonders wichtig ist es, die Jugend mit richtigem bergsteigerischen Geiste zu erfüllen, weshalb, wenn irgend tunlich, jede Sektion eine Jugendabteilung ins Leben rufen sollte.“10

Im Hauptausschuss wird mit Ernst Enzensperger ein eigener Jugendreferent (ähnlich der heutigen Bundesjugendleitung, wobei der Jugendreferent damals vom Erwachsenenverband bestimmt wurde) installiert und es werden ein Ausweis, Abzeichen, Versicherung und ermäßigte Mitgliedsbeiträge sowie Vergünstigungen auf Hütten beschlossen. Wie Walter Welsch in seiner Geschichte der Sektion Bayerland zusammenfassend schreibt: „Die Nürnberger Beschlüsse [von 1919] hatten für die Jugendarbeit der Sektionen die Bedeutung eines Startschusses: Bereits 1924 gab es 70 Sektionen mit 97 Jugendgruppen und 3.336 Teilnehmern, 1929 waren es 101 Sektionen mit 118 Gruppen und 4.906 Mitgliedern.“11

 

Das Erbe

Die Jugendarbeit im Alpenverein wurde anfangs nicht von den Kindern und Jugendlichen her gedacht, sondern von Erwachsenen ersonnen, gestaltet und durchgeführt. Der Zeitpunkt der Gründung, nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und zu Beginn der ersten Demokratie auf deutschem Boden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wurzeln dieser Jugendarbeit im Kaiserreich und in einer streng hierarchisch geprägten Kultur liegen. Dreh- und Angelpunkt der Jugendarbeit ist Ernst Enzensperger, dem man zugutehalten kann, dass er mit großem organisatorischen Geschick und beeindruckender Zielstrebigkeit die notwendigen Strukturen etabliert. Inhaltlich ging es darum den Nachwuchs auf Linie der Altvorderen zu bringen und mit „richtigem bergsteigerischem Geist“ zu erfüllen. Die Chance, junge Menschen an den Angeboten zu beteiligen, sie ernst zu nehmen und ihnen Verantwortung zu übergeben, wurde aber trotz der Anknüpfungspunkte und dem „leuchtenden Vorbild“ des Wandervogels vertan und sollte erst fünfzig Jahre später im Zuge von „1968“ und den neuen sozialen Bewegungen wirkmächtig werden.

 

Quellen

1 Vgl. Geschichte der Sektion München. https://www.alpenverein-muenchen-oberland.de/150/geschichte

2 https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Deutscher_Alpenverein_e._V._(DAV)#Gr.C3.BCndungsphase

3 Siehe auch: Bischof, Florian (2018): Erziehung als Lebensaufgabe. Ernst Enzensperger, Gründervater der Jugendarbeit im Alpenverein.

4 Ernst Enzensperger (1923): Das alpine Jugendwandern.

5 Paul Jacobi (1919): Alpine Zukunftsgedanken. MDÖAV. S. 7.

6 Hermann Amanshauser (1918): Alpenverein und Jugendbewegung. MDÖAV, S. 123.

7 Adolf Deye (1917): Der Deutsche und Österreichische Alpenverein und die Jugendbewegung. MDÖAV, S. 117.

8 Protokoll der 47. Hauptversammlung des DuÖAV. S. 35.

9 Ebd. S. 4.

10 Walter Welsch (2010), Die Geschichte der Sektion Bayerland des Deutschen Alpenvereins e. V. – Die Zeit des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik 1914 – 1933.

11 Ebd. S. 170.

 

Autor

  • Autor "Epoche 1 - Etablierung der Jugendarbeit": Florian Bischof
 

jung.laut.bunt.

Übersicht der virtuellen Zeitreise

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100 Jahre Jugendarbeit im Deutschen Alpenverein – eine ganz schön lange Zeit. Was ist seit 1919 alles passiert und wie wurde die JDAV so, wie sie heute ist? Das wird in der virtuellen Zeitreise „jung.laut.bunt.“ erzählt. Zum 100-jährigen Jubiläum der Jugendarbeit im DAV im Jahr 2019 haben wir in Archiven, Büchern und Zeitungen gestöbert und viele interessante Geschichten (wieder-)entdeckt. Ein Beispiel: Die Anfänge der Jugendarbeit vor 100 Jahren hätten auch ganz anders aussehen können, wenn die „Wandervogelbewegung" als Vorbild genommen worden wäre. Oder wusstest du eigentlich, dass die Jubi nicht schon immer in Bad Hindelang, sondern davor an einem anderen Standort war? In den 80er Jahren ging es dann ganz schön bunt zu und der Naturschutz wurde immer wichtiger. 

Jugendarbeit im Nationalsozialismus

Epoche 2

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Die Jugendarbeit des Alpenvereins während der Weimarer Republik war von ersten Versuchen, Jugendgruppen zu organisieren, gekennzeichnet und gleichzeitig stark beeinflusst von den zeitgenössischen, alpinistischen Vorstellungen.   Organisatorisch wurden Vorzüge wie eine Unfall- und Haftpflichtversicherung oder Ermäßigungen auf Hütten geregelt, die Jugendarbeit in der Satzung des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins verankert und eine Einteilung in verschiedene, altersbedingte Gruppen vorgenommen. Neben den Jugendwandergruppen stachen dabei vor allem die 1921 zunächst von der Sektion Austria eingerichteten und 1928 für die übrigen Sektionen anempfohlenen Jungmannschaften hervor. In ihnen war die 18-25-jährige Leistungselite zusammengefasst und sollte zum selbstständigen, führerlosen Bergsteigen befähigt werden. Für die Ausbildung der Leitenden wurden die ersten Lehrwartkurse eingeführt.1